Baumagazin-Interview | recalm: »Lärm ist ein großes Problem und ANC ein willkommener Lösungsansatz«

Wer am Bau arbeitet, ist beständig von störenden und schädlichen Geräuschen umgeben, etwa von Baumaschinenlärm. Dieser kann auf Dauer dramatische Folgen wie eine Lärmschwerhörigkeit mit sich bringen. Um dem entgegen zu wirken, hat Recalm eine Lösung entwickelt, die den Lärm aktiv in Baumaschinenkabinen mithilfe von Antischall reduziert. Wie das System funktioniert, wo es Anwendung findet und was sich dadurch alles ändert, hat bauMAGAZIN-Redakteur Dan Windhorst im Gespräch mit Lukas Henkel, Mitgründer und Kaufmännischer Geschäftsführer der Recalm GmbH, erfahren.

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bauMAGAZIN: Herr Henkel, wer sich regelmäßig zu starkem Lärm aussetzt, riskiert auf Dauer eine Lärmschwerhörigkeit und damit eine Erkrankung, die nicht mehr zu heilen ist. Gerade auf der Baustelle, wo schwere Baumaschinen teils ohren­betäubenden Lärm produzieren, nimmt Lärmschutz daher eine tragende Rolle ein. Mit der Entwicklung einer ANC-Lösung (Active Noise Cancelling) entwickelt Recalm ein innovatives und neues System, das störende Geräusche auf Knopfdruck reduzieren soll. Wie kam es zu dieser Idee?
Lukas Henkel: Ihren Ursprung hat die Idee am Hamburger Fischmarkt. Auch dort ist es laut, weshalb mein dort wohnhafter Mitgründer Marc von Elling bei geöffnetem Fenster keine Ruhe fand. Nach Rücksprache mit Personen aus der Baubranche war schnell klar, dass Arbeitnehmer, die unter Lärm arbeiten, weitaus gefährlicheren Lärmpegeln ausgesetzt sind als unsereins in den eigenen vier Wänden. Nachdem wir mit den verschiedensten Stakeholdern aus der Branche gesprochen haben, war klar: Lärm ist ein großes Problem und ANC wäre ein willkommener Lösungsansatz.

bauMAGAZIN: Das System basiert auf dem Prinzip von Active Noise Cancelling (ANC) – statt Geräusche einfach nur zu dämpfen, nutzen Sie Antischall, um den Lärm aktiv zu reduzieren. Wie muss sich der Anwender diesen Vorgang vorstellen?
Lukas Henkel: Bei der Reduktion von Lärm unterscheidet man üblicherweise zwischen passiver und aktiver Dämpfung. Passive Dämpfung erfolgt mittels Dämmmaterialien. Diese Art von Dämpfung eignet sich gut für hochfrequenten Lärm. Aktive Dämpfung basiert auf Signalverarbeitung, also Soft­ware. Diese Art der Dämpfung funktioniert besonders gut bei tieffrequentem Lärm. Ein Mikrofon nimmt den Lärm einer primären Schallquelle – beispielsweise einem Motor – auf. Mithilfe der Signalverarbeitung wird ein Signal mit entgegengesetzter Polarität erzeugt. Ein Lautsprecher dient als sekundäre Quelle und gibt den Gegenschall aus. Durch destruktive Interferenz wird das Störsignal ausgelöscht. Unser System arbeitet dabei adaptiv und versucht je Betriebsszenario die bestmögliche Reduktion zu erzielen. Der wahrnehmbare Effekt ist also abhängig von der Lärmcharakteristik je Situation. Selbst wenn mal kein spürbarer Effekt erzielt würde, reduzieren wir trotzdem Lärm und schützen das Ohr vor unnötigen Frequenzen. Grund hierfür ist, dass das menschliche Gehör zum einen einer variablen Empfindlichkeit unterliegt und zum anderen erst bei einem Unterschied von 3 dB(A) eine spürbare Veränderung wahrnimmt. Nur ein gesundes Gehör kann bei guten Bedingungen im direkten Vergleich Pegel von 1 dB(A) unterscheiden. Das mindert den Mehrwert einer nicht direkt spürbaren Reduktion unterhalb von 3 dB(A) aber keineswegs. Bei Lärm gilt: Weniger ist immer mehr. Das Ergebnis ist, dass das dumpfe, bassähnliche Wummern reduziert wird, während das Feedback vom Motor, Warnsignale, Radio und Sprache unberührt bleiben oder sogar besser hörbar werden.


bauMAGAZIN: Ihre ANC-Lösung wirkt im Vergleich zum großen Nutzen erstaunlich kompakt: Wie sieht es mit der Kompatibilität hinsichtlich verschiedener Baumaschinentypen und -hersteller aus? Ließe sich prinzipiell jede Baumaschine damit aus- bzw. nachrüsten?
Lukas Henkel: Grundsätzlich haben wir unser Produkt ANCOR (Active Noise Cancelling Offered by Recalm) so entwickelt, dass es auch nachrüstbar ist. Um das Produkt installieren zu können, ist ein normal langer Sitzrücken samt Kopfstütze nötig. ANCOR wird von hinten an die Streben der Kopfstütze geschraubt und umfasst somit die Kopfstütze. Zudem braucht es eine Kabine – für offene Fahrerstände, wie etwa bei Straßenfertigern, ist das System nicht geeignet. Sind Kopfstütze und Kabine gegeben, lässt sich das Produkt theoretisch auf jeder Baumaschine nachrüsten bzw. instal­lieren.

bauMAGAZIN: Eine Frage, die sich speziell erfahrene Baumaschinen-Anwender in diesem Zusammenhang stellen: Ihre ANC-Lösung soll störende Geräusche reduzieren, gilt das dann nicht auch für andere Geräuschquellen wie akustische Warnsignale oder Zurufe von Arbeitskollegen, etwa in Gefahrensituationen?
Lukas Henkel: Wie bereits angedeutet, sorgt unser System für die Reduktion von tieffrequenten Anteilen im Spektrum. Gewünschte und benötigte Geräusche reduzieren wir nicht, sondern machen sie durch das Reduzieren des tiefen Wummerns unter Umständen sogar besser hörbar.

bauMAGAZIN: Recalm hat bereits wichtige Auszeichnungen für seine Innovation erhalten – unter anderem den »Deutschen Arbeitsschutzpreis 2019« auf der A+A in Düsseldorf sowie die »Systems and Components Trophy«, die auf der Agritechnica in Hannover verliehen wurde. Was lässt sich zur bisherigen Resonanz auf das System sagen?
Lukas Henkel: Beide Preise sind repräsentativ für unsere Mission: Wir wollen ein innovatives Produkt im Markt etablieren, das die Lebensqualität der Fahrer erhöht, indem die Sicherheit und der Komfort am Fahrerarbeitsplatz im Fokus liegen. Viel wichtiger als etwaige Preise ist aber das Feedback aus dem Markt bzw. von den Anwendern. Hier ist die Resonanz bisher sehr gut! Wir befinden uns mit diversen OEM in Projekten sowie Testphasen und auch die Bauunternehmen haben längst verstanden, dass Arbeitsschutz und Komfort am Arbeitsplatz nicht mehr wegzudenken sind – besonders vor dem Hintergrund, dass der Fachkräftemangel den Konkurrenzdruck am Arbeitsmarkt erhöht. Auch bei den Bauunternehmen gibt es innovative Tester, die vorpreschen und mit uns zusammenarbeiten.

bauMAGAZIN: Recalm wurde 2017 von Marc von Elling, Martin Günther, Ralf Ressel und Ihnen gegründet. Seither ist viel passiert: Neben der Entwicklung erster Prototypen sowie der Weiterentwicklung der Technologie arbeitet Recalm nun mit Hochdruck an der Marktreife: Ist bereits abzusehen, wann die Branche damit rechnen darf?
Lukas Henkel: Das stimmt, die Zeit ist schnell ins Land gezogen und wir haben jede Menge auf unserem bisherigen Weg lernen dürfen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, in diesem Jahr den Markteintritt zu schaffen und erste Maschinen auszurüsten.

bauMAGAZIN: Das Jahr 2020 war vorrangig von der Covid-19-Pandemie und einhergehenden Schutzmaßnahmen sowie Einschränkungen geprägt. Alles deutet darauf hin, dass wir uns auch 2021 in Geduld und Disziplin üben müssen. Wie hat Recalm diese Zeit bisher wahrgenommen und welche Ziele stehen aktuell im Mittelpunkt?
Lukas Henkel: Natürlich trifft uns die Pandemie an der ein oder anderen Stelle. Sei es bei Tests mit Kunden oder der Liefertreue von Entwicklungsaufträgen. Auch wir haben im März 2020 das gesamte Team ins Home-Office geschickt. Sicherlich macht die Situation mit jedem Menschen im Team was und es muss stellenweise besonders hingehört und umgedacht werden. Wir haben uns im engen Austausch miteinander zurück in den Arbeitsalltag getastet. Mittlerweile sind wir, je nach Situation, wieder mehr im Büro und auch bei Kunden im Feld. Vergangene Krisen haben aber zudem gezeigt, dass kleinere, innovative Unternehmen als Gewinner aus der schweren Zeit hervorgehen konnten.
Bei aller vorhandenen Demut haben wir die Ambition, gestärkt aus der Krise zu kommen und unsere Innovativität und Agilität zum Vorteil unserer Kunden einzubringen. Wir glauben, dass wir nicht abreißen lassen dürfen, wenn wir in Deutschland als Innovationstreiber im internationalen Vergleich oben mitspielen wollen. Daher wird die Zeit nach der Krise kommen, in der es schnell gehen muss, und dann werden wir da sein. Im Vordergrund steht 2021 der Markteintritt. Zudem möchten wir bereits existierende Partnerschaften intensivieren und neue, starke Partner hinzugewinnen.    d


Mit Antischall vor Baumaschinenlärm schützen

Zwischen massiven Eisenstreben, rauen Betonklötzen und tonnenschweren Baumaschinen ist eine Baustelle vor allem eines – extrem laut. Wer in der Bauindustrie tätig ist, sieht sich tagtäglich geradezu ohrenbetäubenden Lärmquellen gegenüber. Beim Einsatz leistungsstarker Hydraulikbagger, Rüttelplatten, Walzen und Radlader sorgt das für viel Krach, der auf Dauer ernsthafte gesundheitliche Schäden mit sich bringen und im schlimmsten Fall zu einer Lärmschwerhörigkeit führen kann, die aufgrund der Schädigungen im Nervensystem als unheilbar gilt. Grund genug, um dieses Thema ernst zu nehmen. Und genau das hat Recalm getan: Das Hamburger Unternehmen hat unter dem Namen ANCOR eine innovative Active-Noise-Cancelling-Lösung (ANC) entwickelt, die direkt in einer geschlossenen Fahrerkabine nutzbar ist und dort die gefährlichen Lärmschallwellen mit Gegenschall bekämpft.

Eine auf Schallwellen basierte Lärmunterdrückung, die sich in den Fahrersitz einer Baumaschine integrieren lässt: Die Idee für ein solches System kam Marc von Elling, Recalm-Mitgründer und Technischer Geschäftsführer, ausgerechnet am Hamburger Fischmarkt in Altona – einem Stadtteil, bei dem Lärm praktisch schon zum Inventar gehört. Er wollte einen Weg finden, um Lärm auszuschalten, ohne dafür einen umständlichen Hörschutz aufsetzen zu müssen. Das führte 2017 zur Gründung der Recalm GmbH, an der neben Marc von Elling auch Martin Günther (Technischer Geschäftsführer), Lukas Henkel (Kaufmännischer Geschäftsführer) und Ralf Ressel (Mentor) beteiligt waren.

Neben der typischen Hamburger Machermentalität setzte das Team in den folgenden Jahren vor allem auf den dortigen Erfindergeist: Entwickelt wurde ein Algorithmus, der lärmenden Schall in ein gegenphasiges Schallsignal umwandelt und so den Lärmpegel aktiv reduzieren soll. Das Besondere hierbei ist die sogenannte Freifeldanwendung und damit die Möglichkeit, Lärmschutz nicht nur mittels Kopfhörer direkt am Ohr, sondern innerhalb der Fahrerkabine zu betreiben.

Ausgeklügeltes System

Um einen solchen aktiven Lärmschutz zu betreiben, benötigt die ANC-Lösung ANCOR (Active Noise Cancelling Offered by Recalm) mehrere Mikrofone, die die vorhandenen Umgebungsgeräusche aufnehmen. Mittels Mikroprozessor wird daraus dann ein Schallsignal mit entgegengesetzter Polarität entwickelt. Hier wird also »Feuer mit Feuer bekämpft« – genauer genommen, Schallwelle mit Schallwelle. Das resultierende Gegengeräusch wird dann über mehrere Lautsprecher freigesetzt, die in Ohrnähe des Fahrers im Sitz verbaut sind. Damit soll sich der Lärm in der Fahrerkabine überlagern und zum großen Teil auslöschen lassen.

Als wichtiger Nebeneffekt des Systems gilt, dass höhere Frequenzen davon unberührt bleiben: Beim unterdrückten Baumaschinenlärm handelt es sich um niederfrequenten Schall, weshalb der Fahrer auch weiterhin akustische Signale wahrnehmen kann und nicht in seiner Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt wird.

Idee mit Zukunft

Mit ANCOR hat Recalm eine Lösung entwickelt, die sich nach Ansicht von Lukas Henkel vielseitig einsetzen lässt. Nutzbar ist das System überall dort, wo eine geschlossene Kabine samt Sitz mit normal hoher Kopfstütze und Rückenlehne vorhanden ist.

Darüber hinaus lässt sich die Click-on-Lösung auch nachrüsten. Im Bereich der Baumaschinen bietet sich für Recalm daher ein beachtliches Potenzial. Im Unternehmen denkt man eigenen Angaben zufolge bereits einige Schritte weiter: Anwendung könnte das System auch in Lkw, Pkw, Bussen oder Flugzeugen finden.

Stand der Dinge

Seit dem Hamburger Fischmarkt und der ersten Idee zu einer solchen Lösung ist viel passiert. Das Recalm-Team hatte 2018 vielversprechende Prototypen entwickelt, die bereits auf der letzten Bauma in München begutachtet werden durften. Darüber hinaus konnte das Unternehmen mit seiner Technologie wichtige Auszeichnungen wie den »Deutschen Arbeitsschutzpreis 2019« auf der A+A in Düsseldorf sowie die »Systems and Components Trophy« im Rahmen der Agritechnica in Hannover gewinnen.

Stattgefunden haben darüber hinaus zahlreiche Langzeittests, um das System auch unter realen Bedingungen auf der Baustelle einem Härtetest zu unterziehen. Die Resonanz, so Lukas Henkel, sei dabei besonders positiv. Wann genau Recalm mit seiner Lärmschutzlösung an den Start geht und was die besonderen Raffinessen dieses Systems sind, erklärt der Mitgründer im bauMAGAZIN-Interview ab Seite 26.    d

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